Identitätspolitik: Wer spricht hier über wen?
Manche fordern, die Identitätspolitik zu entsorgen.
Andere fürchten ein Stammesdenken. Beide Positionen ignorieren, dass
Minderheiten zuerst ihre Stimme finden müssen.
Sabine Hark (* 7. August 1962 in Otzenhausen im Saarland) ist eine deutsche Soziologin mit Schwerpunkten in Geschlechterforschung, feministischer Erkenntnistheorie und -kritik und Queer Theorie. |
Diejenigen unter uns, die schon länger
über Identitätsfragen nachdenken, wundern sich. Schließlich begleitet die
kritische Analyse der Herkunft, Gestalt und Funktion von Identität das, was
heute Identitätspolitik genannt wird, so lange es identitätsbasierte Politiken
gibt. "Ain't I a woman?" fragte die befreite Sklavin Sojourner Truth schon
1851 ihre weißen feministischen Mitstreiterinnen und forderte sie auf, sich
auch für die Rechte schwarzer Frauen einzusetzen. Feministische Denkerinnen legten
das Märtyrerinnenmotiv in feministischen Identitätspolitiken frei, befragten Grenzen
lesbischer Identitäten, rekonstruierten die ausschließenden Effekte von
Benennungspraktiken und folgten in kritischer Absicht den in Dogmatismus triftenden
Moralisierungen in emanzipatorischen Politiken. Identitäten machen Ärger, in der Tat.
Nichts
davon findet sich in dem neuerlichen Räsonieren über irgendwie linke, besonders
antirassistische und queere Identitätspolitik. Stattdessen wird dieser ein
blinder, Aufklärung bloß simulierender, Spiegel vorgehalten und einmal mehr durchgekaute
Klischees wiederholt und philosophische Plattitüden, wie die Forderung "Menschen
statt Identitäten", feilgeboten. "Kennst du einen Anti-Identitätspolitik-Essay,
kennst du alle", kommentierte die Journalistin Jana Hensel auf Twitter.
Dass Identität nicht existiert, keine Sache des
Wesens, sondern der Positionierung ist, wie der Kultursoziologe Stuart Hall in
seinen im vergangenen Jahr postum erschienenen Vorlesungen Das
verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation ausführt, gehört indes zum
Kernbestand des Wissens der von Lau und Reinhard/Vašek
gleichermaßen geschmähten Theorie, ob diese sich nun in den Gender und
Postcolonial Studies oder ganz allgemein in den Geisteswissenschaften findet. Wenn
aber Identität gerade nicht eine Sache des Wesens ist und ohnehin nie nur eine
Sache, sondern stets offen und im Werden befindlich, letztlich eine Sache des
Erzählens, gibt es immer Identitätspolitik, das heißt eine Politik der Position
und der Positionalität. Identitäten, mit anderen Worten, sind das Ergebnis von
Erzählungen, mit denen Individuen und Kollektive sich politisch, historisch und
kulturell verorten – und, vielleicht mehr noch, verortet werden. Auf ein So sein,
verwiesen durch Herrschaft: das Weibliche, der Schwule, die Deutschen. Identitätspolitik
meint also zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als das: Wir müssen uns
erzählen, um wirklich zu werden und wir werden erzählt, ob wir wollen oder
nicht, ob wir es wissen oder nicht, ob wir die Erzählung mögen oder nicht. Identitäten
werden nicht ausgedrückt, sondern formuliert, sagt die Philosophin Seyla
Benhabib.
Wer spricht und warum
Das erklärt, warum Identitäten und Identitätspolitik
so umstritten sind. Weil wir uns erzählen müssen, geht es um den Zugang zum
Erzählen, darum, wer definiert und wer definiert wird. Denn ja: Wichtig ist
nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, wer spricht. Tun historisch
marginalisierte Gruppen nun genau das, sich nämlich selbst als Subjekte neu zu erzählen,
intervenieren sie in eben dieses Gefüge der Macht. Sie sprechen zurück,
verlangen, dass die Welt auch einmal durch ihre Augen gesehen wird. "Weil sie beide bereits Jahre zuvor erkannt hatten,
dass sie weder weiß noch männlich waren und dass alle Freiheit und alle
Triumphe ihnen verwehrt sein würden, hatten sie sich daran gemacht, sich als
etwas anderes neu zu entwerfen", schreibt Toni Morrison über die Protagonistinnen
Sula und Nell in ihrem Roman Sula. Kulturelle Identitäten, folgert wiederum
Hall, sind nicht deshalb relevant, weil sie unseren politischen Platz bestimmen
würden, sondern weil sie das sind, was in der Kulturpolitik auf dem Spiel
steht – das, was in ihr gewonnen oder verloren wird.
Halls Überlegungen
stammen aus dem Jahr 1994. Einer
Zeit, die er selbst beschrieb als eine, in der weltweit Vorstellungen
von
rassischer, ethnischer und nationaler Differenz erstarkten und
gewaltvolle Identitätspolitiken
zunehmend Anwendung fanden: die Zeit des Zerfalls des Sowjetimperiums,
des
ersten Irakkrieges, der Jugoslawienkriege, der Bürgerkriege in Sierra
Leone und
Tadschikistan, des Konflikts um Bergkarabach, des Genozids in Ruanda, um
nur einige
der damals weltweit ausgetragenen kriegerischen Konflikte um nationale
Autonomie und Zugehörigkeit, kulturelle und religiöse Identität, aber
auch um
Land und Rohstoffe zu nennen. Halls Ausgangspunkt ist die koloniale
Aufteilung der Welt in ein "Innen" und ein "Außen", ein "Wir" und
"die Anderen". Eine Logik, die er keineswegs für überwunden hielt und
die noch
immer die globale Ordnung präge. Immer ginge es dabei auch um die
Aufwertung
der eigenen Identität durch die Abwertung der anderen. Fünfundzwanzig
Jahre später scheint dies mehr denn
je den Zustand der Welt zu beschreiben. Allerorten werden Differenzen
beschworen, Grenzen zwischen uns und denen gezogen und Unterschiede zum
Zwecke des Herrschens markiert. Eine "große Zeit der Teilung, der universellen
Differenzierung und der Suche nach reiner Identität", kommentiert der Philosoph
Achille Mbembe. Stetig lauter, fährt er fort, würden jene Stimmen, "die
erklären, das universell Menschliche gebe es nicht oder es beschränke sich auf
etwas, das nicht allen Menschen, sondern nur bestimmten unter ihnen gemeinsam
sei". Utøya, Christchurch, Pittsburgh,
Kassel und Wächtersbach sind nur einige Ortsmarken, die für diese mörderische
Identitätspolitik stehen.
Über Identitätspolitik sprechen, hieße, (auch) darüber
zu sprechen. Stattdessen sorgt sich Mariam Lau einzig darum, dass
antirassistische und antisexistische Politiken in "ein beängstigendes Fuchteln
mit Maßregelungen, Kränkungen, Schuldzuweisungen und Strafen" umschlügen und
kann "Stammesdenken" ausschließlich in diesen Kontexten entdecken. Dass es freilich
einen Unterschied macht, ob ich fordere, verletzende Worte nicht zu benutzen,
oder ob ich, in Hannah Arendts unnachahmlicher Formulierung, jenen zu Anderen Gemachten das "Recht, in der
Welt zuhause zu sein", streitig mache, kann dann nicht mehr erkannt werden. Wer
daher den urteilenden Blick nur auf die ohne Zweifel existierenden dogmatischen
und, ja, manchmal auch kläglichen Anwandlungen in den Politiken jener richtet, die
gerade erst begonnen haben, "in der ersten Person Plural zu sprechen", wie
Mbembe sagt,
muss sich die Frage gefallen lassen, wessen Möglichkeiten, in Erscheinung zu
treten, sehen und gesehen zu werden, mit solcher Art "Kritik" verteidigt wird.
Stuart Halls Vorlesungen
enden mit der Bemerkung, dass die Frage nicht laute, Wer sind wir?,
sondern Zu wem können wir werden? Solange nicht allen gleichermaßen
möglich ist, darauf eigene Antworten zu geben, sollten jene, die von herrschaftlichen Identitätspolitiken nicht reden mögen,
auch über die Versuche Minorisierter, eine Stimme zu finden, besser schweigen.
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