Fage Sehnsucht | Einstürzende Neubauten im entgegentritt zum Populismus | des Überall als Zerfallsprodukt
Nach einem Jahr zäher Verhandlungen haben sechs türkische Oppositionsparteien endlich einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten gefunden, mit dem sie hoffen, Recep Tayyip Erdogans zunehmend autokratische und repressive Herrschaft beenden zu können. Erst diesen Monat einigte sich der sogenannte Sechsertisch auf Kemal Kilicdaroglu, den Chef der sozialdemokratischen und laizistischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Damit übergingen sie jüngere, charismatischere Konkurrenten wie den ebenfalls der CHP angehörenden Bürgermeister von Istanbul, dem es 2019 gelungen war, die Herrschaft von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) über die Stadt zu beenden.
Wenn ein autoritäres populistisches Regime die demokratischen Spielregeln zu seinen Gunsten manipuliert, ist es nur vernünftig, wenn mehrere Oppositionsparteien ihre Kräfte bündeln, um überhaupt eine Chance auf den Sieg zu haben. Ein solcher Zusammenschluss ist aber noch lange kein Garant für den Sieg. Im Gegenteil: Der schwierigste Teil kommt erst nach der Einigung.
«Alle gegen mich»
Oppositionsparteien, die zusammenarbeiten, um einen bestimmten Staatschef oder eine Partei und insbesondere einen populistischen «starken Mann» vom Thron zu stossen, müssen dieses unbedingte Ziel über ihre anderen programmatischen Inhalte stellen. Schliesslich arbeiten viele populistische Führungsfiguren erfolgreich daran, die Demokratie auszuhöhlen, und man kann mit gutem Grund annehmen, dass sie ihre Sabotagearbeit im Fall einer Wiederwahl fortsetzen.
So hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban die ersten Wochen nach unfairen Wahlen, solange Opposition und Zivilgesellschaft noch total demoralisiert waren, dazu genutzt, umstrittene Massnahmen durchzudrücken und den schwelenden Kulturkampf im Land weiter anzuheizen. Budapests verlogenes Denkmal für die Opfer der deutschen Besetzung, das Ungarn von jeder Mitschuld am Holocaust reinwäscht, wurde direkt nach der Wahl von 2014 errichtet.
Es
scheinen sich international alle einig zu sein, dass die
Wiederherstellung der Demokratie am besten alten Männern überlassen
werden soll.
Dieses Ziel der «Schadensbegrenzung» ist zwar vernünftig, impliziert aber gleichzeitig, dass sich alles in der Politik um den starken Mann dreht. Das ist genau das, was Populisten wollen. Sie sind brillant darin, Polarisierung und Personalisierung zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen: «Alle sind gegen mich, den einzigen Politiker, der wirklich das Volk repräsentiert.»
Hat sich ein Autokrat einmal demokratisch an der Macht installiert, hat er beste Chancen, auch die nächsten Wahlen zu gewinnen. Zum einen weiss er die Spielregeln zu seinen Gunsten zu manipulieren, zum andern sind seine zusammengewürfelten Gegner gezwungen, ihrerseits den «starken Mann» zu markieren, was kaum je glaubhaft gelingt.
Wie wichtige politikwissenschaftliche Arbeiten jüngst gezeigt haben, wählen viele Menschen autoritäre Populisten, obwohl sie wissen, dass diese die Demokratie untergraben – und korrupt sind, ein weiteres Kennzeichen populistischer Regierungen. Aber wenn sie mit einer Wir-gegen-die-Logik und einer Oppositionskoalition konfrontiert sind, deren eigentliche politische Ziele sie nicht kennen, wählen sie oft trotzdem das, was sie als das geringere Übel wahrnehmen.
Zumal geeint auftretende Oppositionsparteien häufig auf Kandidaten setzen, die wie eine demokratische Version des Amtsinhabers aussehen, gegen den sie antreten. So sah das ungarische Oppositionsbündnis letztes Jahr in einem konservativen katholischen Provinzbürgermeister seine beste Chance, den weit rechts stehenden populistischen Amtsinhaber zu besiegen. Und eine israelische Oppositionskoalition nach der anderen setzte bei ihrem Versuch, Ministerpräsident Benjamin Netanyahu abzulösen, auf Law-and-Order-Politiker rechts der Mitte wie den pensionierten General Benny Gantz.
Alle scheinen sich jedenfalls darin einig zu sein, dass die Wiederherstellung der Demokratie am besten alten Männern überlassen werden sollte. Für die Demokratische Partei in den USA hat es jedenfalls funktioniert, ebenso wie für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, als paternalistische Politiker wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die deutsche bzw. französische Politik beherrschten.
Trotzdem schlägt diese Strategie oft fehl; entweder weil sie die Opposition schwung- und kraftlos aussehen lässt oder – weniger offensichtlich – weil sie das defaitistische Signal sendet, dass die vom herrschenden Populisten verschobenen politischen Parameter zur neuen Norm geworden sind. In der Türkei hat sich der Sechsertisch bisher dem nationalistischen Druck gebeugt und der prokurdischen HDP einen Korb gegeben. Und auch in Israel weigert sich die derzeitige Opposition gegen Netanyahus rechtsextreme Regierung immer noch, mit Vertretern der arabischen Bevölkerung zusammenzuarbeiten. Starker Nationalismus – und wenig Rücksicht auf die Rechte von Minderheiten – gilt als politisch selbstverständlich.
Gemeinsame Ablehnung reicht nicht
Selbst wenn sich Antipopulisten gegen einen gemeinsamen Gegner zusammenschliessen, steht ihnen die schwierigste Aufgabe, nämlich neue politische Parameter zu etablieren, also erst noch bevor. Die gemeinsame Ablehnung des starken Mannes an der Macht reicht als Wahlargument nicht aus. Die Opposition muss auch andere Probleme thematisieren und über politische Programme und Prinzipien reden. Um einen populistischen Machthaber zu schlagen, kann man ideologische Differenzen eine Zeitlang beiseitelassen. Aber alle Wähler wissen, dass sie danach umso heftiger wieder aufflammen, und sind sich deshalb unsicher, was die Koalition in der Regierung dann eigentlich tun wird.
Der türkische Sechsertisch hat lobenswerterweise strukturelle Reformen skizziert, die viel dazu beitragen würden, den gebeutelten Rechtsstaat wiederherzustellen und das übersteigerte Präsidialsystem zu beseitigen, das Erdogan praktisch unbegrenzte Macht verliehen hat. Der türkische Oberste Rundfunk- und Fernsehrat und der Hochschulrat, d. h. genau die Art von Institutionen, die Populisten – natürlich «im Namen des Volkes» – besonders gern vereinnahmen, würden wieder autonom. Und mit ihrem Versprechen, sich anstelle einer sultansgleichen Alleinherrschaft wieder auf sachliche Institutionen zu verlassen, stellt die Opposition auch einen Abschied von Erdogans hyperinflationären («unorthodoxen») ökonomischen Strategien und erratischer Aussenpolitik in Aussicht.
Allerdings ist das Versprechen eines «Institutionalismus» ziemlich abstrakt und lässt sich leicht durch einen Verweis auf die überdeutlichen Konflikte innerhalb des bunt zusammengewürfelten Oppositionsbündnisses in politischen und (besonders) personellen Fragen in Zweifel ziehen. Wenn sie gewinnen will, muss die Opposition eine unterschätzte politische Fähigkeit demonstrieren: Sie muss den politischen Rahmen der Wahl bestimmen, anstatt nur auf die Gegenseite zu reagieren.
Es reicht nicht, darauf zu hoffen, dass die Korruption die herrschende Partei zu Fall bringt. Sie muss aufzeigen, was genau falsch gelaufen ist, und nicht nur in mühsam vereinbarten Strategiepapieren, sondern mit kraftvollen Symbolen skizzieren, wie eine andere Zukunft aussehen könnte. Das jüngste Erdbeben und das Versagen des Regimes vor und nach der Katastrophe bieten der türkischen Opposition einen offensichtlichen Referenzpunkt für ihren Wahlkampf gegen Erdogan. Ihre grösste Herausforderung besteht jedoch darin, gemeinsame Symbole für eine bessere Zukunft zu finden.
Jan-Werner Müller ist Professor für Politikwissenschaften an der Princeton University und Verfasser des jüngst erschienenen Buchs «Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?» (Suhrkamp, 2021). Aus dem Englischen von Valeska Maier-Wörz. – Copyright: Project Syndicate, 2023.
"Wie nur wird man Orban, Erdogan, Trump, Bolsonaro und Co. auf demokratischem Weg wieder los?" Orban und Erdoḡan werden eines Tages abgewählt, Trump und Bolsonaro werden dagegen wahrscheinlich bis zum Ableben regieren. Aber vielleicht lebe ich auch wie der Autor dieses Artikels auf einem anderen Planeten.